Mein Sport, mein Leben und ich: Cyclocross-Weltmeisterin Cordula Biermann über Achtsamkeit und Ausdauer in einer männerdominierten Sportwelt
Wann ist man eigentlich zu alt? Zu alt oder zu weiblich, sich in den Matsch zu werfen, mit dem Fahrrad über Baumstämme zu springen oder zu alt einen Wheelie – das gekonnte Radfahren auf dem Hinterrad – zu lernen?
Cordula Biermann beweist mit ihrem Können, dass sich die Grenzen von Alter und imaginären Don’ts im Radsport verschoben haben. Mit 53 Jahren gehört sie zu den besten Cyclocross-Fahrerinnen in Deutschland. Dann, wenn es regnet, schneit und friert, packt sie ihre Räder und betreibt einen Sport, der es in sich hat. An der Startlinie stehend, mit Helm, Schutzbrille und mit langem Renneinteiler gekleidet, sieht man ihr nicht an, dass sie bis zu 30 Jahre älter als ihre Konkurrentinnen ist. Man erwartet nicht, dass diese Frau ebenso flink, wendig und mutig wie ihre Mitfahrerinnen den rund 2,5km langen Parcours abfährt. Vielmehr: Sie spielt mit der Strecke, weiß, wann sie welchen Antritt setzt, wie sie tiefe Sandpassagen anfahren muss, damit sie nicht stecken bleibt oder ihr Rad schultert, wenn Teilstücke nicht fahrbar sind und sie über Hindernisse laufen muss. In der 45-minütigen Rennzeit wird der Rundkurse rund siebenmal durchfahren. Unter Hochbelastung gilt es maximal konzentriert zu fahren, denn jeder noch so kleine Fehler kostet Sekunden und Plätze. Die Fahrerinnen reihen sich dicht hintereinander in die Singeltrails ein oder setzen gleichzeitig zu Sprüngen an. Jeder Vorteil wird genutzt, um einen Vorsprung herauszufahren. Das alles ist Cyclocross und das alles beherrscht Cordula Biermann par excellence. Sie liebt ihn, diesen Sport.
Cyclocross (früher auch Querfeldein) ist eine Disziplin im Radsport und wird wie beschrieben auf unbefestigten, profilierten und technisch herausfordernden Rundkursen ausgetragen. Im Unterschied zum Mountainbiken werden die Rennen auf Rennrad-ähnlichen Crossrädern gefahren. Geschick, Kondition und Nervenstärke sind Leitungsfaktoren, die im Cyclocross unabdingbar sind. Erst seit 2000 finden Cyclocross-Weltmeisterschaften auch für Frauen statt und damit 50 Jahre nach der ersten WM für Männer. In Zahlen betrachtet sind Frauen im Radsport allgemein unterrepräsentiert. Im Rennradbreitensport liegt die Beteiligung von Frauen immerhin noch bei rund 27%, beim Cyclocross liegt der Anteil weit unter 20%.
Für Cordula Biermann sind die Zahlen irrelevant. „Ich habe immer schon gemacht, was mir gut gefallen hat und bin nicht auf jeder Welle mitgeschwommen.“, sagt Biermann. So sei ihr als Kind kein Baum zu hoch gewesen, die Natur ihr liebster Spielplatz. Um ihre Bewegungsfreude weiter auszuleben, trat sie damals der Kaltenkirchener Turnerschaft fürs Schwimmtraining und dem BSV Kisdorf fürs Basketballspielen bei. Nach ihrem Schulende und mit Ausbildungsbeginn zur Immobilienkauffrau verfolgte sie diese Sportarten zunächst nicht vereinsgetragen weiter und wandte sich dem Ausdauer- und Triathlon-Sport zu. Das Training konnte sie nach Zeit und Lust und nach den Geburten ihrer drei Kinder flexibler ausüben. Noch bis 2020 nahm sie an Triathlon-Wettkämpfen auf Regionalliga-Niveau teil: Eine gute Voraussetzung in Sachen Kondition für den Cyclocross.
Einen Beweis für den Erfolgsfaktor Nervenstärke der Ausnahmeathletin Biermann sehen wir hier: Es ist das Jahr 2014 und jenes Jahr, in dem Biermann die Ankündigung zum Cyclocross-Rennen im Rantzauer Forst in Norderstedt rechtzeitig liest. „Ich hatte mir schon lange vorgenommen, bei dem Rennen mitzumachen, habe es aber immer wieder verpasst mich anzumelden.“, erinnert sie sich. So schnappte sie sich Ende Oktober ihr Rad, fuhr zum Start des Hobbyrennens und fragte: „Könnte mir bitte jemand einen Crash-Kurs ins Regelwerk vom Cyclocross geben?“. Man erklärte ihr, dass Windschattenfahren erlaubt sei, die zu fahrenden Runden von den Wettkamprichtern im Laufe des Rennens angezeigt werden und ja, mit ihrem Radsporttrikot sei sie richtig gekleidet. Startschuss. Sieg. „Ich bin jede Runde mit einem Lächeln gefahren“, denkt Biermann an jenes erstes Rennen zurück. Nachdem sie ihren Einstieg in den Cyclocross erfolgreich als Siegerin der Hobbywertung in der Saison 2014/15 im Stevens Cup, der bekannten Cyclocross-Rennserie in Norddeutschland, abgeschlossen hatte, stand sie in der kommenden Saison mit einem richtigen Crossrad, einer Lizenz und in der Elitewertung am Start. Schon damals gehörte sie zu den älteren Fahrerinnen.
Vielleicht war dies genau der richtige Zeitpunkt, dass sich Biermann und der Cyclocross getroffen haben. Vielleicht brauchte es die jahrelange Sport- und Lebenserfahrung, damit sie in im Alter zwischen 43 Jahren bis aktuell 53 Jahren ihr Sportprofil und Geschick im Umfang mit ihren Rad schärfen konnte. Viel mehr als beim Triathlon ist es der technische Aspekt im Cyclocross, der Biermann fasziniert. „Im Rennen ist mein Rad mein Partner. Wir sind wie eine Einheit“, erklärt Biermann. Ihre Räder wartet und pflegt sie selbst und weiß damit im Ernstfall eines Defektes, was zu tun ist. Pannen und Stürze sind eben auch unvermeidbare Bestandteile im Cyclocross. Biermann verbucht beides unter dem Aspekt Vielseitigkeit, der eben auch seinen Reiz hat. „Mir gefällt, dass man beim Cyclocross seine Grenzen immer wieder neu ausloten kann“, so Biermann. Stück für Stück – und diese Erfahrung habe sie auch gemacht - werde man mutiger und traue sich mehr zu.
Richtig gut sei Biermann in den letzten Jahren insbesondere dadurch geworden, dass sie gelernt habe, ihre Pausen- und Ruhebedürfnisse gut zu beachten. Sowie sie merke, dass der Spaß im Training oder Wettkampf verloren geht, wird nachgesteuert. Erst seit rund vier Jahren trainiert sie nach einem strukturierten Plan, den sie zusammen mit ihrem Mann entwickelt und an ihre Zeitressourcen neben ihrem Job als Immobilienkauffrau mit einer 36-Stundenwoche anpasst. Nicht von der Hand zu weisen ist eben auch, dass sich Belastbarkeit und Regenrationsphasen mit zunehmenden Alter verändern und da gelte es, aufmerksam mit sich zu sein.
Es ist die Ganzheitlichkeit in ihrer Sportart, die Cordula Biermann lebt: Der Einklang zwischen Kopf, Körper, Natur und Material. Man könnte sagen, eine Sportart – abgesehen vom Regelwerk – mit wenig Normen und eine junge, vielfältige Sportart, in der sie ihren individuellen Platz im Spitzensport gefunden hat. Da stellt sich die Frage: Wie lange noch? Ganz einfach: „Wenn ich feststelle, dass ich an der Startlinie stehe und nicht mehr aufgeregt bin, dann ist es Zeit aufzuhören“, so Biermann. Bis dahin hat sie noch Zeit, an ihrem Wheelie zu arbeiten.
- Autorin und © Rhea Richter
- Zuerst erschienen in : Schleswig-Holsteinische Landeszeitung am 23.10.2024 – wir danken für die Veröffentlichungsrechte